KI-Personas und Synthetic Users: Schneller Research oder riskante Illusion?

10.9.2025

KI kann heute virtuelle Nutzer simulieren – mit Profilen, Interviews und Feedback auf Knopfdruck. Für viele Unternehmen klingt das nach Effizienzgewinn. Doch wie nützlich sind KI-Personas wirklich, und wo liegen die Grenzen?

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Dieser Artikel wurde verfasst von:

Yann Metzmacher

User Research – also die systematische Erforschung von Nutzerbedürfnissen – ist heute ein wesentlicher Bestandteil guter UX- und Produktentwicklung. Interviews, Tests und Beobachtungen helfen, echte Anforderungen zu verstehen, Prioritäten zu erkennen und Lösungen zu entwickeln, die relevant sind. Doch dieser Prozess kostet Zeit und Budget – zwei Ressourcen, die in vielen Projekten knapp sind.

Genau hier setzt ein Trend an: KI-Personas und sogenannte Synthetic Users. Sie versprechen, Zielgruppen schnell greifbar zu machen und Research-Ergebnisse in Minuten statt Wochen zu liefern. Doch hält der Ansatz, was er verspricht?

Was steckt dahinter?

KI-Personas entstehen durch generative Modelle wie ChatGPT, Gemini oder spezialisierte Plattformen. Gibt man eine grobe Zielgruppenbeschreibung ein, erzeugt die KI typische Parameter wie Alter, Einkommen, Gewohnheiten, Werte oder Social-Media-Verhalten. Daraus entstehen Profile, die als Stellvertreter einer Zielgruppe dienen. Mit der richtigen Prompt-Formulierung können diese Personas zudem feinjustiert und verdichtet werden.

Synthetic Users („synthetische Nutzer“) gehen einen Schritt weiter. Sie generieren nicht nur Profile, sondern auch ganze Interviews. Gibt man eine Forschungsfrage ein, antworten diese virtuellen Nutzer wie echte Interviewpartner – inklusive biografischer Details und vorformulierten Aussagen.

Auf den ersten Blick erinnern solche Ergebnisse an klassische Research-Artefakte. Doch im Gegensatz zu realen Personas oder Interviews fehlt der menschliche Erfahrungs- und Beobachtungskontext.

Die Market-Research- und Marketing-Software Delve AI erstellt Synthetic Users mit realitätsnahen Profilen – inklusive Demografie, Verhalten und Interessen. © Delve AI

Die Vorteile: Schnelligkeit und Einstiegshilfe

  • Effizienz: Personas oder Interviews entstehen in Minuten statt Wochen.
  • Kostenvorteil: Gerade für kleinere Projekte oder bei knappem Budget ein klarer Pluspunkt.
  • Diskussionsgrundlage: Virtuelle Nutzer helfen, Hypothesen zu strukturieren und Teams in Diskussionen einzubinden.
  • Niedrige Einstiegshürde: Projekte können schnell starten, auch wenn wenig Vorwissen über Zielgruppen vorhanden ist.
  • Breite Anwendbarkeit: Besonders nützlich, wenn es darum geht, in neue Märkte oder Themen einzusteigen und erste Annahmen sichtbar zu machen.

Für B2B-Unternehmen mit komplexen Produkten und langen Entscheidungszyklen kann dieser schnelle Einstieg helfen, erste Anforderungen zu skizzieren und Workshops vorzubereiten.

Delve AI lässt sich in Slack integrieren: Fragen an Synthetic Users werden direkt im Chat beantwortet und liefern sofort verwertbare Insights. © Delve AI

Die Grenzen: Warum echte Menschen unersetzlich bleiben

Die Forschung der Nielsen Norman Group (NN/g) – einem international anerkannten Beratungsinstitut für Usability und User Experience – zeigt jedoch, wie verzerrt die Ergebnisse synthetischer Nutzer sein können.

  • Übermäßig positive Antworten („Sycophancy“): In einer Studie gaben Synthetic Users an, alle Online-Kurse erfolgreich abgeschlossen zu haben. Echte Teilnehmer dagegen berichteten von Abbrüchen, Zeitmangel und Motivationsproblemen. Auch bei Forenaktivitäten zeigten sich Unterschiede: Reale Nutzer empfanden Diskussionsforen oft als wenig nützlich, während synthetische Nutzer sie als zentralen Bestandteil hervorhoben.
  • Fehlende Priorisierung: KI-Personas nennen zahlreiche Bedürfnisse – Interaktivität, Personalisierung, Flexibilität – aber alle erscheinen gleich wichtig. Reale Nutzer dagegen gewichten klar und setzen Prioritäten, was für Produktentscheidungen entscheidend ist.
  • Keine echten Erfahrungen: KI kann Produkte nicht nutzen. Geschichten wirken plausibel, bleiben aber generisch. Nuancen und Kontextfaktoren, die menschliches Verhalten prägen, gehen verloren.
  • Riskante Konzepttests: Fragt man Synthetic Users, ob ein Drohnen-Lieferservice für Medikamente sinnvoll wäre, lautet die Antwort fast immer positiv – „schneller, effizienter, moderner“. Reale Nutzer würden dagegen Sicherheitsbedenken, Kostenfragen oder praktische Hürden einbringen.
  • Organisationsrisiken: Besonders in Unternehmen mit niedriger UX-Maturity besteht die Gefahr, dass virtuelle Nutzer als Ersatz für echtes Research missverstanden werden. Dadurch drohen falsche Produktentscheidungen und eine Abwertung der User-Research-Praxis insgesamt.

Best Cases: Wo Synthetic Users sinnvoll eingesetzt werden könnten

Synthetic Users sind kein Ersatz für echte Interviews – doch richtig eingesetzt können sie wertvolle Dienste leisten. Wir haben ein paar potenzielle Szenarien für Sie zusammengestellt:

  • E-Commerce-Lasttest: Vor dem Black Friday simuliert ein Online-Shop zehntausende gleichzeitige Kaufprozesse. Synthetic Users helfen, Systemgrenzen frühzeitig zu erkennen und Ausfälle zu verhindern.
  • Banking-App unter Hochlast: Eine Bank testet mit synthetischen Logins und Transaktionen, ob das System an Tagen mit außergewöhnlich vielen Zugriffen stabil bleibt – etwa beim Monatsanfang.
  • Healthcare-Training ohne Patientendaten: Eine Gesundheits-App trainiert Chatbots mit synthetischen Patientendialogen, ohne sensible Patientendaten nutzen zu müssen.
  • UX-Prototyping im internationalen Kontext: Ein E-Learning-Anbieter simuliert, wie Nutzergruppen aus verschiedenen Ländern mit Lernplattformen interagieren.
  • Marketing-Pretests: Ein Unternehmen erstellt synthetische Zielgruppensegmente und prüft Kampagnenvarianten, bevor diese an reale Zielgruppen ausgerollt werden.

Ein reales Beispiel: Ein führender US-Versicherer nutzt Dynatrace Synthetic Monitoring, um kritische Anwendungen permanent zu testen. Simulierte Logins und Transaktionen prüfen Verfügbarkeit und Performance – und melden Probleme, bevor echte Nutzer betroffen sind. Zusätzlich setzt das Unternehmen synthetische Tests auf den Login-Seiten seiner Wettbewerber ein, um die eigene Performance im Marktumfeld zu vergleichen.

Ist Fake Research besser als gar kein Research?

Wenn Ressourcen für echte Interviews fehlen, kann synthetische Forschung ein hilfreicher Startpunkt sein. Doch es besteht die Gefahr, dass ungenaue Ergebnisse ungeprüft übernommen werden – oder dass sich Teams an die schnelle Verfügbarkeit gewöhnen und echtes Research dauerhaft einsparen. Eine ausschließliche Nutzung synthetischer Recherche kann sich daher langfristig als Fehlentscheidung erweisen.

Denn KI-Personas und Synthetic Users sind zwar Werkzeuge mit Potenzial, dürfen aber nicht missverstanden werden. Sie eignen sich, um Projekte schneller anzustoßen, Hypothesen sichtbar zu machen und Teams zu aktivieren. Doch sie ersetzen nicht die Tiefe, Empathie und Authentizität, die nur der direkte Kontakt mit echten Menschen bringt.

Drei Handlungsempfehlungen für B2B-Unternehmen

1. Nutzen Sie Synthetic Users für Einstieg und Hypothesenbildung, aber validieren Sie Ergebnisse immer mit echtem Research.

2. Setzen Sie sie dort ein, wo Skalierung und Monitoring gefragt sind – etwa für Lasttests oder Markt-Benchmarking (also den systematischen Leistungsvergleich mit Wettbewerbern).

3. Vermeiden Sie es, Synthetic Users als alleinige Entscheidungsgrundlage in kritischen Projekten zu verwenden – sie sind Ergänzung, nicht Ersatz.

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